Der schönste Ort der Welt
Sommer 2020, irgendwo in Norwegen
Seit zwei Wochen war ich schon mit Rucksack und Zelt unterwegs nach Norden, erst durchs menschenleere Gebirge im mittleren Südnorwegen, Ryfylkeheiane, dann quer durch die Hardangervidda. Inzwischen hatte ich die Kondition und die Routine, dass ich jeden Wandertag von Neuem genießen, ja, ganz im Stillen für mich feiern konnte. Und doch fand ich erst auf dem letzten Stück meiner Wanderung den Ort meiner Sehnsucht, den — für mich — schönsten Ort der Welt. Eine einsame Hochebene aus Fels, Gras, Wasser, Schnee und einem endlos weiten Himmel. Und Stille. Mein Zelt mittendrin.
Einsam war es die ganze Wanderung hindurch gewesen. Meine Route vom Lysefjord nordwärts hatte ich mir selbst auf der Karte zusammengestellt. Am Anfang kam ich neun Tage lang zu keinem Ort, zu keiner Straße. Es gab nichts außer den in die Wildnis gestellten Hütten des DNT, die wundersamerweise eine Speisekammer hatten, in der man sich bedienen durfte. Ein- oder zweimal am Tag sah ich andere Wanderer oder traf welche an den Hütten, in der Hardangervidda etwas häufiger. Anfangs hatte ich mich überschätzt, der Weg war anspruchsvoll, oft hoch im Gebirge über Schneefelder, der Rucksack schwer, das Wetter nicht immer gut. Aber nun war ich im Fluss, machte richtig Strecke, genoss jeden Schritt.
Nördlich der Hardangervidda hatte ich einen fantastischen Platz zum Zelten oben an der Kante des Simadals gefunden, mit Panoramablick hinab zum Eidfjord. Nun kam ich morgens früh zum Gletschersee des Hardangerjokulen, an dem die meisten Wanderer nach rechts zur Rembedalseter-Hütte und weiter zur Gletscherumrundung nach Finse abbiegen. Doch mir war eine dünne rote Linie auf der Karte aufgefallen, ein Weg, der geradewegs nach Norden über eine abgelegene Hochebene nach Hallingskeid führte, einer Hütte mit Bahnanschluss — von hier wollte ich nach Hause aufbrechen. 20 letzte Kilometer durchs Nichts , ich konnte auf meinen Karten nicht einmal einen Namen für diese Region ausfindig machen. Wenn hier jemand entlang möchte, wird er das an einem langen Tag durchziehen, um von der einen Hütte zur anderen zu kommen. Ich aber wollte mir Zeit lassen und hatte eine Übernachtung im Zelt eingeplant, mittendrin.
Nach meinem Aufstieg über die glatt geschliffenen Felsplatten eines breitgezogenen Tals stieß ich oben auf ein hügeliges, wassergetränktes Land, das noch mit Schneefeldern des vergangenen Winters durchsetzt war. Der Weg war nur eine ausgetretene Spur, mit Steinmännchen markiert. Frische Trittspuren gab es nicht, die Wellenmuster des verharschten Schnees waren unberührt. Der Blick schweifte von den flechtenüberzogenen Felsbrocken, dem Gras und dem knöchelhohem Gesträuch über Hänge, Schneeflächen, Bäche und kleinen Seen hinauf zu einem atemberaubenden Horizont. Soweit das Auge reichte: Grün-weißgefleckte Höhenzüge, von Riesen verlorene, einzelne, hausgroße Felsböcke, tiefblaue Wasserflächen. Darüber ein schier unbegreiflich hoher Himmel mit weißen Wattewölkchen, denen man fast dabei zusehen konnte, wie sie unhörbar davonzogen. Mal schienen sie absolut unbeweglich am Himmel verankert zu sein, dann, beim nächsten Blick, waren sie verschwunden und ich konnte nur raten, welche der anderen Wolken sie vorher gewesen waren.
Am Nachmittag war ich genug gegangen, und ich stellte irgendwo an einem kleinen See mein Zelt auf. Hinten mündeten Schneefelder hinein, an deren Rändern sich der schwere, klumpige Schnee blau unters Wasser schob. Ich legte mir ein Handtuch und trockene Sachen bereit, schälte mich aus den Wandersachen und kämpfte mich prustend ins kalte Wasser. Einmal alles abwaschen, es ist wie ein Neuanfang.
Rucksack auspacken, Isomatte ausbreiten, Essen kochen, mit dem Löffel in der Hand zum Horizont schauen: mehr hatte ich nicht zu tun. Hier kommt heute niemand mehr vorbei. Ich bin erschöpft, aber vollkommen ruhig. Ich habe alle Zeit der Welt. Ich spaziere noch etwas herum, klettere auf einen Felsen, genieße neue Ausblicke, die mir doch immer wieder das gleiche zeigen — den schönsten Ort der Welt.