Diese Unfassbarkeit des In-der-Welt-Seins

@Aus_der_UBahn
5 min readJan 5, 2021

Wie ich mir eine Art Sinn erwanderte

Tun, wofür der Körper gemacht ist

Gehen ist nichts Besonderes, das tun wir alle, ohne es eines Gedankens für wert zu halten. Und doch habe ich in dieser einfachsten Form der Bewegung durch den Raum in den letzten Jahren den Schlüssel zu einer tiefen Zufriedenheit gefunden — um das zum Pathos geronnene Wort Glück zu vermeiden. Beim Gehen tue ich, wofür mein Körper gemacht ist. Ich erlebe die Welt nicht durch eine Glasscheibe hindurch; ich bin in der Welt und bewege mich mit eigener Kraft durch sie hindurch. Ich bin da. Und am Abend bin ich müde. Ja, gehen kann langweilig sein. Aber auch die Langeweile bereichert. Nirgendwo und zu keiner Zeit sonst lässt sich die Bewegung des Körpers so mühelos in eine des Geistes überführen. Wer geht, erfährt und erlebt den Ort seiner Existenz zwischen dem raschelnden Laub auf dem Weg und dem Himmelsgewölbe, zwischen der Haustür im Rücken und der dunklen Silhuette des Gebirges am Horizont. Er lernt, was es bedeutet, ein Bewusstsein zu haben zwischen all den Gräsern, Steinen und Wolken. Beim Gehen fehlt nichts.

Mein Weg zum Wandern

Vor drei Jahren habe ich einmal einiges Geld in Outdoor-Läden ausgegeben. Ein neues Zelt, ein leichter Schlafsack, ein einfacher Kocher. Ich ging auf die Fünfzig zu und dachte mir: Wenn ich jetzt nicht anfange, das zu tun, wonach ich eine solche Sehnsucht verspüre, dann gar nicht mehr: Ich wollte gerne gehen. Weit und lange. Und von mir aus auch allein, denn niemand wollte mitkommen: dreieinhalb Wochen lang durch die Alpen, von der Nähe Turins bis ans Mittelmeer, immer oben am Alpenhauptkamm entlang nach Süden, abends dann vor dem Zelt an einem abgelegenen Bergsee sitzen und in die Ferne schauen. Spazieren gegangen war ich schon immer viel, und auch Wanderungen hatte ich gerne gemacht, aber zuletzt wollten meine Begleiter sich immer öfter nach zwei, drei Tagen einfach mal ausruhen, während ich dachte: Weiter! Ich will weiter! Und so ging ich im Sommer 2018 allein die südliche Hälfte der “Grande Traversata delle Alpi” durchs Piemont auf einen Rutsch und ich war infiziert.

Wandern wird mit dem Alter besser

Gehen ist kein Trendsport. Es gibt keine Trainer, die dich anfeuern, keine Bestenliste, keine jugendlichen Vorbilder, keine Red-Bull-Videos. Für manche ist es sogar etwas peinlich, was mich persönlich dann noch bestärkt. Jeder, der einigermaßen gesund und nicht verletzt ist oder eine Behinderung hat, kann Gehen, und um eine Fernwanderung zu machen, muss er es einfach nur wollen (und das Glück haben, lange Urlaub nehmen zu können). Er kann sich vorher zwar eine gewisse Fitness antrainieren durch Laufen, aber zur Not kommt die auch unterwegs. Wenn er den Wandertag gut plant, also rechtzeitig isst und trinkt, regelmäßig Pausen macht, nicht zu viel herumschleppt und nicht zu viele Blasen oder Knieschmerzen bekommt, dann kann er gehen, soweit er will und so lange es hell genug ist. Er wird nicht völlig ausgepowert sein, nein, er ist einfach abends matt und schläft sehr gut und dann hat er wieder Kraft für den nächsten Tag.

Der Reiz der weiten Distanz und der Alltag

Gehen, bis du auf der Landkarte eine lange Linie zeichnen kannst. Eine Linie, so lang, dass du sie auf der Europakarte erkennen kannst, alles auf den eigenen Füßen erwandert — das ist ein zutiefst erfüllendes Gefühl. Das schaffst du mit 30, mit 50 und später auch noch. Eine besondere Geschichte erzählen können: Von hier nach da, das bin ich alles zu Fuß gegangen. Ja, da spielt dann doch ein wenig Ehrgeiz hinein. Ich tracke meinen Weg, ich poste Bilder, ich schreibe drüber — vor allem, um meinen eigenen Genuss noch besser auskosten zu können. Selbst meine alltäglichen Spaziergänge bekommen dann doch den Charakter eines Trainings, wenn ich besonders schnell gehe und mein eigenes Tempo bestaune. So bringe ich ein wenig vom Abenteuer auch ins tägliche Gehen. So knüpft die täglich gleiche Runde an die Gedanken und Erlebnisse der großen Tour an, die Gedanken werden flüssig, Erinnerungen, Planungen tauchen auf und verschwinden wieder im Takt der Schritte.

Die Schritte formen die Gedanken

Interessant, wie das lange Gehen in der Landschaft den Körper mit dem Geist verknüpft. Über längere Zeit bin ich nur Rhythmus. Der Kopf leert sich, einzelne Worte purzeln noch darin herum, die Fetzen einer Melodie, eine Erinnerung, ein loser Gedanke, doch alles wird wie durchsichtig, nichts drängt sich in den Vordergrund, du bist vor allem das, was deine Sinne dir liefern. Was du sehen kannst, erfüllt dich ganz, die wenigen Geräusche, ein Hauch von Wind auf der Haut. Das ist alles, was du beim Gehen spürst. Je länger du gehst, desto weniger fühlst du dich an den Augenblick gefesselt. Du musst nicht mehr jeden Stein würdigen, jede Flechte betrachten, denn du weißt, da kommen mehr, wenn du nur weitergehst. Im Wissen, dass es Tag für Tag so weitergehen wird, gehst Du schneller, denn du wirst keinen Eindruck verpassen. Es sind genügend da. Du gehst nicht mehr wie ein Spaziergänger in die Landschaft hinein, sondern du bist einfach drin und bleibst drin, fast schon ein Teil von ihr. Wenn du gehst, bist du einfach da.

Was tue ich hier?

Was mich beim Gehen regelrecht erschüttert, ist: diese Unfassbarkeit des In-der-Welt-Seins. Wie sich das Draußen über die Sinne erschließt: der Duft des Waldbodens, das Knacken von Zweigen, die raue Oberfläche eines Granitbrockens. Die Welt ist da, und ich bin für einen Moment mit ihr da, mit diesem Felsbrocken, diesem Bergpass, den ich schon aus der Ferne gesehen habe und schließlich erreiche, vielleicht mit der Hand berühre, und dann gehe ich weiter und bin wieder fort, aber er bleibt zurück. Was ist es, dass ich diesen flüchtigen Moment wahrnehme und um mich herum sonst nichts Bewusstes ist? Ich blicke in den Himmel: Bin ich der einzige, der diese Wolke zerstieben sieht? In welchem Moment hat sie sich soweit umgeformt, dass sie nicht mehr dieselbe ist wie zuvor? Man ahnt es: Beim Gehen geht’s mir auch ums Älterwerden. Was habe ich schon erlebt, was erwarte ich noch? Und wer ist dieser “Ich”, der da ständig in mir denkt oder auch nicht?

Den Kopf zwischen Sternen

Beim Gehen bin ich eingebettet in die harte Materie unter meinen Wanderstiefeln, das Stolpern, den Schweiß, den ausgetretenen, sich windenden Pfad — und das Bergpanorama in der Ferne, einen gleißenden Horizont, flüchtige Wolkenbilder. Die Füße auf Gneis, den Kopf zwischen den Sternen. Ich schaue hinab auf jahrmillionenaltes Gestein und wundere mich: Wie kurz ist meine Zeit! Ich bin hier und bald nicht mehr. Hier ist ein Stück Welt, das ich erwandert habe, hier haben meine Stiefel einen schmalen Pfad etwas mehr ausgetreten.

Ich bin dagewesen, wie die Steine. Ein kurzer Moment der bewussten Gemeinschaft mit dem Unbelebten — oder ist da doch ein Weltgeist? — , erwandert aus eigener Kraft.

Ich bin dagewesen, wie die Steine.

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Hamburg. ÖPNV. Wandern. Ex-Twitter, jetzt @Aus_der_UBahn@Norden.Social