Gedankenwandern, Tag 1: Anreise.
Von Hamburg ins Fjell
In meinen Gedanken bin ich gestern früh in Hamburg aufgebrochen, mit dem Zug immer nach Norden. Ich fahre gerne Zug, den Blick immer nach draußen, Musik hören, lesen, dösen, twittern. Als ich mich eingerichtet hatte, alles getan, gegessen, ein paar Mal umgestiegen, war ich schon in Hirtshals, kurz bevor es eine Qual wurde. Umstieg auf die Fähre nach Stavanger, endlich geht die Reise richtig los!
Draußen an Deck, zusehen, wie Dänemark am Horizont verschwindet, trotz des kalten Windes. Obwohl ich weiß, dass es äußerst unwahrscheinlich ist, hier Delfine zu sehen, halte ich die Augen offen und beobachte das Wasser, denn ich liebe Delfine. Das Schiff dreht nach Westen, auf die offene Nordsee zu, um das südliche Norwegen zu umfahren. Dorthin, wo die Sonne sich dem Horizont nähert. Ich gönne mir ein warmes Abendessen im Self-Service-Restaurant, trotz der astronomischen Preise, und suche mir einen abgelegenen Sitzplatz im großen Salon. Später in der Nacht rolle ich in einer stillen Ecke meine Isomatte aus, packe den Schlafsack drauf und versuche zu schlafen, was mir nicht gut gelingen will.
Endlich ein neuer Tag, frischer Kaffee, vor uns der Hafen von Stavanger. Der Himmel ist bedeckt, der Morgen ist etwas trübe, doch ich jubiliere innerlich. Endlich Norwegen! Mit Bus und Taxi (sauteuer!) hetze ich hinüber nach Lauvvik, südöstlich von Stavanger an der inneren Seite der großen Bucht. Eine halbe Stunde vor Abfahrt der kleinen Fähre nach Lysebotn bin ich am Hafen. Als die Motoren dröhnen, das Wasser aufschäumt,das Schiff vibriert und ablegt, umkreisen uns die Möwen. Das Wetter klart auf. Zweieinhalb Stunden dauert die Fahrt durch diesen südlichsten der großen Fjorde, vorbei zunächst am Preikestolen, der himmelhoch aufragenden Felskanzel, an deren Kante wir von unten nicht einmal winzig kleine Gestalten erkennen können. 600 Meter direkt hinab ins Meer. Hunderttausende Touristen kommen dort jedes Jahr hin, wir fahren unten nur vorbei.
Weiter hinten kommt Flørli in den Blick, ein winziger Ort, bekannt für sein ehemaliges Wasserkraftwerk am Ufer, von dem eine Treppe mit 4.444 Stufen bis hinauf auf die Hochfläche führt. Auch den Kjerag kann ich sehen, den Felsblock, der hoch überm Fjord in der Felsspalte klemmt. 2016 war ich hier, und schon damals standen die Menschen versteckt hinter einem Felsvorsprung Schlange, um sich — alleine — auf dem Klotz fotografieren zu lassen.
Lysebotn, der Ort am Ende des Fjords, Startpunkt meiner Wanderung. Ich bin da. Auf der Kaimauer lasse ich erst den Trubel etwas vergehen. Als die Autos vom Schiff herunter und weitergefahren sind, schnüre ich die Bergstiefel fest und stapfe zur Jugendherberge. Hier bekomme ich den “Nøckel”, den Universalschlüssel für die unbewirtschafteten Berghütten. Ich kann es mir nicht verkneifen und erzähle stolz von meinem Vorhaben, von hier aus in drei Wochen bis zum Aurlandsfjord zu gehen, und der Mann hinterm Tresen tut mir den Gefallen und staunt ordentlich. Ich kaufe ihm ein letztes Eis ab, das ich auf der Bank draußen esse, bevor ich endlich den Rucksack schultere, die Stöcke ausfahre und — losgehe. Jetzt gehe ich. Ein Schritt vor den anderen. Es ist soweit. Hätte ich mir nicht schöner ausdenken können.
Am Ende des kleinen Orts gehe ich in Gedanken links, die kleine Straße den Berg hinauf, hier und da stehen noch Häuser, unter mir sehe ich das letzte Mal den Fjord, dann biege ich nach rechts auf den kleinen Pfad in das erste Seitental hinein. Strommasten führen hinauf, unten wachsen noch Bäume und Gebüsch, es ist ein lauer Sommertag geworden. Es geht stetig hinauf, über den Pfad wachsen Wurzeln, Felsbrocken bestimmen den Wegverlauf. Links murmelt ein kleiner Bach, in dem ich mir die Flasche fülle, statt Bäumen wächst Gebüsch, später nur noch niedriges Gesträuch und Gras.
Zwei Stunden, und mich umgibt im Hochtal ein felsiges Fjell. Drei Stunden, ich bin auf 750 Metern Höhe angekommen und habe den Pfad verlassen, um rechts an den steilen Abhang überm Lysetal zu treten. Hier ist kein Mensch mehr, auch nicht unten im Tal. Ich suche mir zwischen den abgeschliffenen Granitkuppen eine grasbewachsene Mulde mit Blick ins Tal hinab und auf die Berge gegenüber. Jetzt bin ich da. Mein Ort für die Nacht. Ich stelle das Zelt auf, koche mir eine Portion Nudeln, und dann sitze ich da auf einem noch sonnenwarmen Fels und genieße die Stille. Kein Maschinendröhnen, keine Autos. Ich hole das Fernglas und sauge den Ausblick in mich auf. Dann kommt die Müdigkeit, und obwohl es noch nicht einmal dunkel geworden ist, ziehe ich den Reißverschluss vom Zelt zu und liege in meinem eigenen kleinen Haus, meinem Zuhause für die nächste, so wunderbar lange Zeit. Von den Sternen über mir werde ich diese Nacht wohl nichts mitbekommen, so denke ich mir das.
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Gedankenwandern, Tag 2: Gehen.