Gedankenwandern, Tag 10: Hårteigen.

Zum einsamen Wahrzeichen der Hardangervidda.

@Aus_der_UBahn
2 min readApr 5, 2020
Der Hårteigen auf Google Street View.

Vielleicht 15, vielleicht 20km bei 7 oder auch 9 Stunden Wanderzeit, einschließlich der Kletterei auf den Gipfel des Hårteigen. Von Litlos immer nach Norden Richtung Hadlaskard-Hütte.

Immer wieder erstaunlich, wie lange es morgens dauert, bis ich abmarschbereit bin. Um nicht zu spät loszukommen, habe ich meinen Wecker meistens auf 7 Uhr stehen, manchmal auch früher, wenn ich in der Nacht zuvor nicht mehr lange gelesen habe. Oft schlafe ich ja schon um 22 Uhr, da ist die Nacht lang genug. Nach dem Aufwachen koche ich mir Wasser für einen Kaffee und ein Müsli mit Milchpulver und schaue erst einmal etwas aus dem Zelt. Etwas lästig danach das Anziehen, Zähneputzen, Eincremen, Einpacken, Zeltabbauen und all das, bis ich den Rucksack auf die Schultern werfen kann, meistens gegen halb 9.

Der Rest des Tages wird heute vom Hårteigen bestimmt, einem Berg, von dem mir mein Bruder vor vielen Jahren erzählt hat, als er schon mit Freunden Urlaub in Norwegen gemacht hat und ich noch nicht. An meinen Bruder muss ich heute viel denken. Der Hårteigen ist nur in mehrtägigen Fußmärschen zu erreichen. Den ganzen Vormittag ragt er immer wieder am Horizont empor und verschwindet aus meinem Blick, wenn ich durch die Niederungen gehe. Meine Route habe ich zuhause extra so gelegt, dass ich an ihm vorbeikomme. Gegen Mittag, nach 12, 13km stehe ich endlich an seinem Fuß. Auf keinen Fall gehe ich hier vorbei, ohne ihn zu besteigen. Ich hänge mir das Fernglas um, stopfe ein Picknick in die Taschen und deponiere den Rucksack hinter einem Fels. In einer Scharte mit brüchigem Geröll auf seiner Ostseite kann man die 200m hinaufklettern, zum Teil mit Drahtseilen gesichert. Je höher ich komme, desto mehr steigt meine Erregung. Der Himmel über dem grauen Gestein ist von einem unendlich tiefen Blau. Ich komme ins Schwitzen, atme tiefer, aber zugleich immer freier. Als wäre die Atemluft hier noch reiner, noch klarer.

Auf dem Gipfel wartet das Glück auf mich. Um mich herum der gesamte Erdkreis. In diesem Moment bin ich auf meiner kleinen Bergspitze hier der Mittelpunkt eines kreisrunden Horizonts. “Wo Deine Füße stehn, ist der Mittelpunkt der Welt”. Es ist alles gut.

Später dann klettere ich wieder hinunter, schultere den Rucksack und gehe weiter, ganz ohne dass ich mir etwas vornehme. Ich weiß die Richtung und folge dem Pfad, ohne darüber nachzudenken, wie lange noch. Ich gehe ganz einfach, alles andere ist egal. Irgendwann bin ich müde, die Sonne steht schräg, da ist ein guter Platz für das Zelt. Ich tue die Dinge, die ich abends tue, dann liege ich auf dem Fels und schaue zurück zum Hårteigen, dann schaue ich nur noch in den Himmel. Und kurz bevor mir die Augen zufallen, krieche ich ins Zelt. So sollte das Leben auch in Wirklichkeit sein.

Hier geht’s weiter:
Gedankenwandern, Tag 11: Nacht.

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Hamburg. ÖPNV. Wandern. Ex-Twitter, jetzt @Aus_der_UBahn@Norden.Social

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