Gedankenwandern, Tag 12: Wasserfall
Unter Menschen — in Fossli am Wasserfall Vøringsfossen
18km, 5h Wanderzeit mit einer langen Mittagspause am Wasserfall Vøringsfossen und im Hotel Fossli, dann weiter nordwärts wieder ins Leere.
Nach dem Loswandern die Vorfreude auf den Tag, aber nach ein paar Schritten ein Gefühl von Eintönigkeit. Ich fühle mich, als hätte ich auf meiner langen Wanderung schon alles durchdacht. Was soll ich jetzt noch denken? Ist da etwa Langeweile? Ich grabe in mir nach Erinnerungen, die ohne viel Bezug an mir vorbeiziehen. Ich habe keine Lust, auf einzelnen Eindrücken und Wortfetzen herumzugrübeln. An meine Romanprojekte, die ich schon immer mit mir herumtrage, ohne sie je umzusetzen, mag ich auch nicht denken. Vielleicht fehlt mir doch einfach etwas Gesellschaft, mit der ich sprechen und etwas Neues, Anregendes erfahren könnte. Es ist eine lange Zeit ohne Austausch. Zum Glück habe ich abends Lesestoff, in den ich mich vertiefen kann. Nun, beim Gehen, verschwindet die Unlust wie das gezielte Denken an sich: Mein Kopf füllt sich einfach mit den konkreten Dingen des Wegs. Da sind Steine, mein Atem, der Himmel, Geräusche. Ich denke an den vor mir liegenden Hang, ich achte auf die Wurzeln, ich blicke hinüber zur Straße. Mehr braucht es gar nicht. Es ist wie eine Läuterung.
Dann komme ich über eine richtige Brücke über einen reißenden Fluß zur Staatsstraße 7. Eine echte Straße! Und dann ein echter Ort! Es gibt mehrere Cafes und Hotels in Fossli, aber keinen richtigen Laden. Leider alles nur auf Touristen eingerichtet, die mit dem Auto kommen und einen kurzen Stop einlegen, um zum Wasserfall-Aussichtspunkt zu spazieren. Die 7 ist die einzige Straße durch die Hardangervidda. Vom Eidfjord heraufkommend windet sie sich teils in unterirdischen Spiralen den steilen Abhang empor und führt dann südlich des gewaltigen Hardangergletschers, der gleich hier im Nordosten aufragt, über die Hochfläche. Auf dem Parkplatz sind mir die Menschen sehr fremd. Wie kann man nur in so einem winzigen Kasten sitzend durch die Gegend reisen und zufrieden damit sein, alles nur mithilfe eines Motors zu erreichen? Und diese seltsame Mode. Sehr unpraktisches Schuhwerk, kein wärmendes Fließ, keine Regenjacken dabei! Und am Aussichtspunkt stehen sie dort herum, wo ich auch gerne stehen würde. Ich fühle mich mit meinem Rucksack deplatziert.
Ich mache ein paar Fotos vom Wasserfall. Ist halt ein Wasserfall. Na gut, schon eine beeindruckende Höhe und Wassermenge, und auch das Tal, in das er sich stürzt, ist ziemlich eng und eindrucksvoll von Feuchtigkeit — oder kann man hier Gischt sagen? — durchwabert. Länger halte ich mich dann aber in dem größten Hotel direkt oberhalb der Fälle auf, dem traditionsreichen Fossli von 1891 mit einer schönen Cafeteria und aussichtsreichen Fensterplätzen. Man spendet mir Strom für meine Geräte, während ich erst einen Mittagsimbiss und gleich danach noch Kuchen und Kaffe genieße. Essen lasse ich mir beim Wandern nie entgehen — ich habe sicher schon wieder ein paar Kilo abgenommen, wie mir meine rutschende Hose verrät. Als andere Gäste meinen Rucksack bestaunen, entwickelt sich ein kurzes, nettes Gespräch. Das Leben in der Natur, auf dem Fjell ist fester Bestandteil der norwegischen Kultur, aber in der Vidda und in Ryfylke sind sie eher im Winter unterwegs — oder im Sommer zum Angeln und Jagen.
Anschließend kann ich direkt vom Hotel auf einem Pfad an der Talkante ins Gebüsch gehen, dann steil den Hang hinauf, um oben — nach einigen tollen Wasserfallausblicken hinter mir — wieder auf den Wanderweg zu kommen, der zurück aufs Fjell führt. Also voran, von 750m Höhe bis knapp an die 1.200m immer nach Norden. Von diesem Gebirgszug blickt man auf drei Seiten über tiefe Täler hinweg, links, im Westen, der Eidfjord, nördlich das Simadal — und im Osten beherrschen die Eismassen des Hardangerjøkulen den Horizont. Zwischen ihm und dem steilen Abbruch ins Simadal werde ich mich morgen hindurchschlängeln, wieder oberhalb an einem Wasserfall vorbei. Für heute aber stelle ich, nach zweieinhalb Stunden zurück in der vertrauten Einsamkeit, mein Zelt auf und köchle mir noch eine schöne Portion Nudeln — alles in Gedanken.
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Gedankenwandern, Tag 13: Wolken.