Gedankenwandern, Tag 14: Rallarvegen.
Auf dem “Bahnarbeiterweg” parallel zur Bergenbahn
26km, 8,5h Wanderzeit. Ein langer Tag auf einer wunderschönen Strecke: Erst noch 10km über die Hochebene bis zur Hallingskeid-Hütte, dann entlang der Bergenbahn auf dem Rallarvegen hinab bis zum Seltuftvatnet und von dort weglos durch eine steile Scharte hinauf bis fast zum Ljosberg (1.693m).
Nach dem morgendlichen Aufbruch wandere ich weiter durch das weite Fjell. Das Wetter hat sich beruhigt, ich stelle es mir schon wieder sonnig vor — wenn das mal realistisch ist! Es dauert noch eineinhalb Stunden, bis ich auf eine Weggabelung stoße, an der ich mich nach rechts hinab ins Tal von Hallingskeid wende. Dieses Tal entwässert die Hardangervidda nach Flåm am Aurlandsfjord und ist die Lebensader der Region, obwohl es nicht einmal eine Autostraße gibt. Denn hier führt die berühmte Bergenbahn hinunter nach Bergen. Sie kommt von Oslo und erklimmt die größte Hochebene Nordeuropas in einer atemberaubenden Streckenführung. Der höchste Punkt liegt oben bei Finse auf 1.222m, einem kleinen Flecken, der nur aus einem Hotel und einer Berghütte besteht. Man könnte also, wenn die Colorline-Fähre von Kiel nach Oslo nicht so unverschämt teuer wäre, in Hamburg den Zug besteigen, in Kiel direkt aufs Schiff wechseln, in Oslo mit der Bahn weiterfahren und dann mitten im Gebirge, wo kein Auto hinkommt, aussteigen und loswandern. Hier in diesem Hochtal ist die Bahnstrecke an vielen Stellen überdacht oder führt komplett durch Tunnel. Sie wird begleitet von dem alten Weg, der für die Bahnarbeiter um die vorletzte Jahrhundertwende gebaut wurde und seit 1974 Teil der Nationalen Fahrradroute 4 ist.
Nach einer Pause an der Hallingskeid-Hütte, wo ich meine Vorräte auffülle, folge ich dem Rallarvegen bergab Richtung Flåm. Für Radfahrer ist er mit seinen groben Steinen sicher nicht leicht zu befahren, aber für mich ist es geradezu eine Rennstrecke. Dreimal passiert mich an diesem Nachmittag ein Zug, man hört ihn schon von Weitem heranrauschen. Ich verspüre den seltsamen Drang, den Passagieren fröhlich zuzuwinken. Kann es sein, dass ich ein Eisenbahnfanatiker bin? Mein Weg führt an zwei großen Seen vorbei, und hin und wieder kommt ein Trupp Mountainbiker an mir vorbei, rasend oder schnaufend, je nach Richtung. Später wird das Tal rund um den Moldåna-Fluss erstaunlich steil und eng, und dann, auf rund 800m Höhe, weitet es sich hin zum Seltuft- und zum Reinungavatnet. Ich mache Picknick auf einem Felsen am Wegrand und schaue über die Seen hinweg: Dort hinten ist der landschaftlich spektakulär gelegene Umsteigebahnhof zur Flåmbahn, wo sich die Nebenstrecke teilweise im Innern des Bergs zum Fjord hinunterschraubt. Von dort kommen die Kreuzfahrt-Touristen heraufgefahren, um sich den wilden Kjosfossen anzusehen.
Ich biege aber vorher ab. Obwohl es schon ein langer Tag war, bin ich neugierig auf die letzte Etappe: Einmal noch quer und oft weglos über einen separaten kleinen Gebirgsstock hinweg, um am anderen Ende morgen nach Aurlandsvangen am Fjord hinabzusteigen. Vor dem Seltuftvatnet halte ich mich also rechts in ein schmales Seitental hinein, und bevor ich zum Fretheimsdalvatnet komme, überquere ich den Bach und kämpfe mich auf einem schmalen Pfad den Hang hinauf. Auf der Karte hatte ich eine dünne Wegspur den Hang des Tarven zum Ljosberg hinauf entdeckt, die unterhalb eines langen Felsvorsprungs durch die Wand nach oben führt. Das ist noch einmal sehr anstrengend, aber macht großen Spaß, nachdem ich den Einstieg gefunden habe — was im Unterholz bei fehlender Markierung etwas mühsam ist. Hier macht es sich bezahlt, dass ich auf dem Smartphone auch eine digitale Karte mit der geplanten Route dabei habe. Von 950m am See geht es durch den Fels direkt hinauf bis zu einem kleinen See auf 1.400m. Links von mir die Felswand, vor mir Geröll, und rechts der steile Abhang mit Blick über den langgezogenen aufgestauten Viddalsvatnet (hier haben einzelne Abschnitte eines Sees manchmal verschiedene Namen), ins Tal hinein und auf die Berggipfel gegenüber.
An dem kleinen Kaldavatnet auf 1.400m werfe ich den Rucksack ab und strecke mich erstmal auf einem Felsen aus. Für heute reicht’s! Ich verschnaufe kurz und beginne dann mit dem Abendritual. Es ist spät geworden und goldenes Licht flutet die Bergfront jenseits des Tals im Osten. Wäre das ausgedacht, wäre es fast kitschig. (Ach ne, Moment…!) Den krönenden Fernblick vom Ljosberggipfel verschiebe ich auf morgen. Ich bin so müde, dass ich trotz warmer Nudeln im Bauch bald zu frösteln beginne. Zeit fürs Zelt.
Auch morgen denke ich mir einen Wandertag aus, den hier:
Gedankenwandern, Tag 15: Fjord.