Gedankenwandern, Tag 17: Bleia und Schluss.
Ein letzter Gipfel mit atemberaubendem Panorama — und dann hinab nach Laerdal.
26km in 7,5h Wanderzeit: Ein letzter Gipfelaufstieg auf den 1.717m hohen Bleia , dann geht es immer hinab ans Fjordufer und bis zum Örtchen Laerdal — Schlusspunkt meiner imaginären Wanderung.
Morgens sind meine Beine noch müde vom langen Aufstieg gestern. Draußen vorm Zelt kann ich vor lauter Gesträuch nicht bequem sitzen, also luge ich beim Frühstück nur aus dem Schlafsack durch die Reißverschüsse des Zelts nach draußen. An meinem letzten Tag scheint das Wetter es noch einmal gut mit mir zu meinen: Es ist zwar kühl und etwas windig hier oben, aber freundlich — wie gemacht zum Wandern. Schöne Vorstellung!
Von etwa 1.100m muss ich nun nochmal rund 600m aufsteigen, querfeldein über Gestrüpp und Gestein. Hier ist es schwer zu gehen, denn wenn du auf die Sträucher trittst und obenauf gehst, hat der Schuh keinen Halt und kann versinken; wenn du zwischen den Sträuchern auf dem Boden gehen willst, siehst du nicht, wohin der Fuß tritt und kannst schnell umknicken. Noch dazu kratzen die Zweige am Bein, der Schuh verhakt sich immer wieder. Wo es steiler wird, ragen mehr Steine hervor, die aber zum Teil auch nur mit großen Schritten zu erreichen und wacklig sind. Später kommt es drauf an, quer zu gehen und die steilsten Stücke und Absätze im Fels zu vermeiden, um Kraft zu sparen. Ich komme nur langsam voran. In Gipfelnähe wächst weniger Gesträuch und endlich komme ich über große Felsblöcke und Gras schnell vorwärts, bis ich am Ende auf dem Gipfel des Bleia stehe. Im Nordosten hinterm Gipfel liegt noch ein großes Altschneefeld, laut Karte sogar der letzte kümmerliche Rest eines Gletschers.
Wie soll ich den Blick von hier oben beschreiben? Meine Vorstellungskraft reicht aus, meine Sprachkunst eher nicht. Rundherum freier Ausblick auf ferne Gipfel und Hochflächen, immer wieder unterbrochen durch tiefe Einschnitte, in denen man die Wasserflächen der Fjorde erahnen kann. Ich sitze lange mit dem Fernglas in der Hand da und schaue.
Dann lasse ich den Rucksack zurück und gehe einen Kilometer weiter bis direkt an die Abbruchkante, wo der Bleia 1.700m direkt in den Sognefjord abfällt. Dort unten, gegenüber am anderen Ufer, ist Leben: ferne Häuser, eine Straße, ein kleiner Hafen für die Fähren, auf dem Wasser hier und da ein Boot mit einer Spur Gischt hinter sich. Über allem dieser tiefblaue Himmel, in dem ich flach auf dem Fels liegend versinke.
Ich esse, ich schlafe kurz in der Sonne im Windschatten eines Felsbrockens, dann reiße ich mich langsam los. Dies ist jetzt wirklich ein Abschied für mich, von nun an geht es bergab, hinunter, weiter hinunter, bis ich im übernächsten Seitental auf einen Pfad stoße, der nach einer weiteren Zeit auf ein Sträßchen mündet, das ganz unten aufs Fjordufer stößt. Ein Hof, ein Zeltplatz, ein Schuppen. Eine kurze Pause zum Erholen der Beine mit Schokoriegel, Erdnüssen und Bergwasser. Ich trotte dann noch die Straße für ein oder zwei Stündchen am Wasser entlang, es geht jetzt in den Laerdalsfjord hinein, bis ich hinter einer letzten Landzunge Laerdal am Ufer liegen sehe.
Der örtliche Campingplatz liegt vorne im Hafengebiet, dort wo der Fluß in den Fjord mündet. Ich stelle hier mein Zelt noch für eine Nacht auf und besorge mir dann im Ort das Ticket für den Bus, der mich morgen sehr früh nach Bergen bringen soll, wo ich mittags die Fähre nach Hirtshals erwischen möchte. Ich bin erfüllt mit einer Mischung aus Stolz und Melancholie. Es ist seltsam, dass die Menschen mir nicht ansehen, was für ein besonderer Moment das für mich gerade ist. Ich blicke immer wieder hinauf zum Berg, von dem ich gerade heruntergekommen bin.
Ich bin zutiefst dankbar, dass ich diese Wanderung drei Wochen lang so erleben durfte — zumindest in Gedanken. Dabei habe ich gar keine allzu großen Zweifel, dass sie tatsächlich so oder so ähnlich stattfinden könnte. Auch bei meinen realen Fernwanderungen auf der GTA bis ans Mittelmeer und auf der Haute Route durchs Wallis war ich am Ende fast fassungslos, dass alles so gut geklappt hat und ich so großartige Erlebnisse hatte. Ich kann es noch immer kaum glauben, dass man zuhause etwas plant und sich vorstellt, wie es wird, und dass man es dann tatsächlich so ähnlich erlebt, wie man es geplant hat. Die Welt liegt für einen da, als wäre sie ein offenes Buch, zumindest Europa, und wenn man seine Fähigkeiten richtig einschätzt und sich gut vorbereitet, kann man hinein in die Welt und hindurch und fantastische Dinge erleben. Alles aus seiner eigenen Kraft. Erlebnisse, die sich in ihrer Wucht und ihrer Wirkung dann doch nicht ausdenken lassen. Einen Pfad entlang durchs Fjell zu laufen ist doch etwas so fundamental Anderes, als es sich nur vorzustellen.
Drückt mir die Daumen, dass die Welt sich im August so weit beruhigt hat, dass so etwas wieder möglich ist. Ich drücke sie für Euch auch, was auch immer Ihr vorhabt. Und bleibt — oder werdet — gesund! Danke fürs Mitwandern!
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