Gedankenwandern, Tag 2: Gehen.

Mein erster Wandertag durch die einsame Lyseheiane

@Aus_der_UBahn
3 min readMar 28, 2020

Heute 22km Strecke, 6:30h Wanderzeit. Am Kamsvatnet vorbei zum Svartevatn (dem Schwarzen See), von da gleich wieder nordöstlich weiter im Nirgendwo, Richtung Storsteinen-Hütte.

Ich merke, dass auf dieser ausgedachten Wanderung die Route weniger wichtig wird. So eintönig ist die Landschaft, so wenige “Landmarken” gibt es, keine Pässe, keine Gipfel, keine Dörfer — dass ich beim Gehen ins Nachdenken verfalle. Ich nehme mir vor, mich jeden Tag einem Thema zu widmen, meine Gedanken ausschweifen zu lassen und sie zugleich zu ordnen. Dies ist der Tag des Gehens an sich.

Nach dem Aufstehen, dem spartanischen Frühstück, dem Zusammenpacken gehe ich los. Es ist noch frisch, doch die Sonne wärmt schon. Zu wissen, ich muss heute nichts tun außer zu gehen, ist zutiefst befriedigend. Es ist so unbeschreibbar konkret. Ein weicher, torfartiger Untergrund, der Pfad, kleine Felsbrocken, auf die man mit einem großen Schritt hinaufsteigt, Erdreich, Heidekraut, ein Wasserlauf. Vorne kommt ein kleiner Buckel in den Blick, du kommst näher, setzt dann deine Füße auf das glattgeschliffene Gestein, Findlinge darüber verstreut, ganz nah, jetzt bist du da, vor dir eine Senke, vorbei, weiter, weiter.

Dich erfüllt das Gefühl, dass du das tust, wofür dein Körper gemacht wurde. Bruce Chatwin vertrat die These, dass die Zivilisation nicht mit der Sesshaftigkeit des Menschen begann, sondern im Gegenteil, mit dem nomadischen Umherziehen. Gehen ist lebendig sein. Es erschöpft nicht wie ein anstrengender Sport, du bist nicht völlig ausgelaugt, sondern nach einem langen Wandertag eher ermattet. Wenn du dich mittags ausgeruht hast und etwas gegessen, dann kannst du fast unbegrenzt weitergehen. Alles aus deiner eigenen Kraft. Mit allem, was du brauchst, auf dem Rücken.

Symbolbild.

Interessant, wie das Gehen mit Körper und Geist verknüpft ist. Über längere Zeit bin ich nur Rhythmus. Der Kopf leert sich, einzelne Worte purzeln noch darin herum, die Fetzen einer Melodie, eine Erinnerung, ein loser Gedanke, doch alles wird wie durchsichtig, nichts drängt sich in den Vordergrund, du bist vor allem das, was deine Sinne dir liefern. Was du sehen kannst, erfüllt dich ganz, die wenigen Geräusche, ein Hauch von Wind auf der Haut. Das ist alles, was du beim Gehen spürst.

Je länger du gehst, desto weniger fühlst du dich an den Augenblick gefesselt. Du musst nicht mehr jeden Stein würdigen, jede Flechte betrachten, denn du weißt, da kommen mehr, wenn du nur weitergehst. Im Wissen, dass es Tag für Tag so weitergehen wird, gehst Du schneller, denn du wirst keinen Eindruck verpassen. Es sind genügend da. Du gehst nicht mehr wie ein Spaziergänger in die Landschaft hinein, sondern du bist einfach drin und bleibst drin, fast schon ein Teil von ihr. Wenn du gehst, bist du einfach da.

Abends, als ich genug gegangen bin, stelle ich das Zelt auf einer weiten, buckeligen Hochebene auf, am Ufer eines namenlosen kleinen Sees, in den ich nackt hineinspringe, solange ich noch warm und verschwitzt bin. Bis zum goldgelben Horizont nur Hügel mit Wasserflächen dazwischen. Das Essen genieße ich nicht wegen des Geschmacks, sondern weil ich weiß, dass es mir Kraft geben wird. Am Nachmittag war der Himmel wolkenlos geworden, und nun strahlt die Sonne fast waagerecht übers Land und taucht alles in ein grellwarmes Orange. In der Dämmerung wird es erstaunlich schnell kalt. Dann, so denke ich mir das, krieche ich ins Zelt.

Hier geht’s weiter:
Gedankenwandern, Tag 3: Stille.

--

--

@Aus_der_UBahn
@Aus_der_UBahn

Written by @Aus_der_UBahn

Hamburg. ÖPNV. Wandern. Ex-Twitter, jetzt @Aus_der_UBahn@Norden.Social

No responses yet