Gedankenwandern, Tag 5: Horizont.
Weglos durch das Fellsgeröll auf den Snønuten (1.604m)
15km Strecke, 7,5h Wanderzeit. In schwerem Gelände hinauf auf den Gipfel des Snønuten, danach Richtung Jonstølen-Hütte hinunter. Kurz davor gezeltet.
Wenn der Weg gut sichtbar und ausgetreten ist, dann ist das Gehen kein Problem. Ich halte stetig auf den Horizont zu, an dem immer neue Buckel und Felsen erscheinen. Aus der Ferne fragst du dich, wie es dort sein wird, und dann ist die Stelle irgendwann sehr nah, dann bist du da — wie fern sie auch vorher gewesen sein mag. Manchmal habe ich einen ganzen Tag lang eine bestimmte Stelle, einen Gipfel im Blick, und abends sehe ich sie noch immer, wenn ich mich zurückwende. Es ist ein stetiges Ziele suchen, träumen, streben, dann erreichst du dein Ziel und suchst dir ein neues. Doch da ist kein Druck, nichts Negatives, nur diese Befriedigung, wenn du wieder eine Strecke geschafft hast. Die Zeit ist da, aber sie lässt dich in Ruhe.
Und dann sind da echte Landmarken wie der 1.604m hohe Snønuten, auf den ich schon zuhause aufmerksam geworden bin, weil es bei Google Street View einen so faszinierenden 360°-Panorama-Ausblick von diesem Gipfel gibt, der alle anderen hier überragt. Einen Pfad hinauf soll es nur von der anderen Seite geben, also verlasse ich am nördlichen Ende des Kaldevatn im Kyrkjesteinsdalen den markierten Weg und schlage mich anhand der Karte den Berg hinauf, immer durch die Flanke mit der geringsten Steigung. Puh, es ist ein riesiges Geröllfeld mit großen Blöcken, über die man teils klettern und springen muss. Stets muss ich damit rechnen, dass ein Fels ins Schwanken gerät, wenn ich darauf trete. Immer wieder geht es vor mir nicht gut weiter, und ich muss ein Stück seitwärts ausweichen, zurück, steil hoch, in eine Spalte hinabsteigen und gleich wieder hinauf. Ich komme sehr langsam voran, es kostet viel Kraft, erst recht mit den 15 Kilo Gepäck auf dem Rücken.
Aber dann wird es flacher, es gibt einfacher gangbare Passagen, und dann geht es plötzlich nicht weiter hinauf: Ich bin oben! Lasse den Rucksack sinken, ziehe mir ein frisches T-Shirt und eine Jacke an und: schaue. Mein einziger Luxusgegenstand auf dieser Tour ist mein Fernglas (675g!). Wo bin ich entlanggekommen? Wie heißt der Gipfel dort im Norden? Kann man schon den markanten Hårteigen in der Hardangervidda sehen? Kann ich irgendwo Tiere oder Wanderer entdecken?
Bald kommt der Hunger, und später das Gefühl, weiter zu müssen. Es gehört sich so, dass das Gipfelvergnügen ein kurzes bleibt, stets ist es auf Dauer zu kalt und der Abstieg noch sehr lang. Ein kurzer Abschied, einmal noch herumschauen, damit ich den Horizont in mir mitnehmen kann.
Nun geht es schnell bergab, auch wenn der Pfad nicht gut zu finden ist. Ich laufe fast, mache Sprünge, wie gut, dass ich schon ein paar Tage Kraft gesammelt habe. Nassgeschwitzt und mit etwas zittrigen Knien erreiche ich den markierten Weg im Tal, dem ich nicht mehr allzu weit folge. Kurz vor der Jonstølen-Hütte in einem weiten, waldigen und sumpfigen Tal halte ich mich seitwärts und suche einen etwas versteckten Zeltplatz. Zweimal habe ich heute Wandergruppen gesehen, einmal eine nette kleine Unterhaltung mit einem norwegischen Pärchen geführt.
Beim Einschlafen denke ich zurück an das Gipfelpanorama. Vielleicht aber auch an die Sprünge über die Felsen beim Abstieg. Ich mahne mich innerlich zur Vorsicht, teilweise war ich heute zu leichtsinnig. Zur Beruhigung habe ich einen Satelliten-Notfall-Sender dabei, mit dem ich auch im Funkloch Hilfe holen könnte. Aber nun rede ich mir ins Gewissen, dass ich es besser nicht soweit kommen lassen sollte.
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Gedankenwandern, Tag 6: Flechten.