Gedankenwandern, Tag 6: Flechten.
Ein kurzer Gang, das Gaukstølen-Tal hinauf
13km Strecke, 4h Wanderzeit. Von kurz vor der Jonstølen-Hütte geht es immer das Gaukstølen-Tal hinauf bis auf etwa 1.000m Höhe beim Berg Moltenuten, von dort hinab zur Übernachtung in der Blekestadmoen-Hütte.
Die Kletterpartie von gestern steckt mir noch in den Knochen. Ich schlafe lange, und als ich den Kopf aus dem Zelt strecke, hat sich der Himmel grau zugezogen, es ist völlig windstill. Beim Losgehen fühlt sich der Rucksack besonders schwer an. Ich komme hinab auf unter 700m, und das Tal ist üppig mit einem Birkenwald bestanden, der Boden ist sumpfig und quatscht beim Gehen. Lange werden meine Schuhe heute nicht trocken bleiben. Zum Glück zieht sich der Weg nun ein langes, ansteigendes Tal hinauf. Mal weitet es sich um einen kleinen See, dann wieder wird es eng und steil an einem rauschenden Bach entlang. Der Baumbestand wird lockerer, und bald komme ich wieder ins Reich der blanken Felsen hinauf. Oben, an einer Art niedrigem Pass zu Füßen des Moltenuten (1.079m), beschließe ich, mich erstmal niederzulassen.
Die Felsen sind alle von Flechten überzogen. Allgegenwärtige, unscheinbare Muster, die mein Auge kaum mehr wahrnimmt. Nun aber mache ich Pause und sehe sie mir genau an. Die flachen, grüngelben Flechten heißen nach ihrem Aussehen Landkartenflechten, Rhizocarpon geographicum. Sie wachsen besonders gerne auf Silikatfelsen, aber so langsam, dass die großen Exemplare über 1.000 Jahre alt sein können. Anhand ihrer Größe kann man Rückschlüsse ziehen, wann das Eis der letzten Eiszeit die Felsen freigegeben hat. Was so mineralisch wirkt, ist eine im Grunde rätselhafte Schicksalsgemeinschaft aus einem oder mehreren Pilzen, den Mykobionten, und verschiedenen Grünalgen oder Photobakterien, die Photosynthese betreiben. Man zählt die Flechten zu den Pilzen, damit sind sie keine Pflanzen (aber auch keine Tiere). Es gibt eine ungeheure Vielfalt an Flechten, und laufend werden noch neue Formen entdeckt. Die Fachleute streiten sich, ob es eine “gerechte” Symbiose ist, da beide Seiten etwas davon haben, oder ob es eher eine Art des Parasitismus ist.
Flechten können ihren Wasserhaushalt nicht selbst regulieren. Wenn es zu trocken wird, verfallen sie in eine Ruhestarre, in der sie extreme Temperaturunterschiede und hohe Lichtintensitäten unbeschadet überstehen können. Selbst in der Antarktis wurden noch 200 verschiedene Flechtenarten gefunden. Könnte ich noch einmal von vorne anfangen, denke ich mir, würde ich Lichenologe werden. Und dann immer durch abgelegene Gegenden ziehen und Flechten fotografieren. Zum Glück hatte ich mir vor dem Aufbruch zuhause ein paar Fachartikel aufs Handy geladen.
Nun beginnt es zu regnen, der Wind frischt auf, und ich beschließe, nur noch den Berg hinunterzugehen und, obwohl es noch früh ist, in der kleinen Bleskestadmoen-Hütte zu übernachten. Meine erste Nacht unter einem festen Dach. Mit mir ist noch ein französisches Paar und ein kleiner Trupp von drei Norwegern dort, wir essen zusammen und reden noch eine ganze Weile, es ist sehr nett, sich einmal zu unterhalten. Die Menschen sind mir alle so seltsam sympathisch. Ich kann meine Klamotten trocknen und fülle meine Vorräte auf. Strom gibt es wie üblich keinen, so langsam geht auch die Powerbank, die ich nur fürs Smartphone einsetze, zu Ende, dann gibt’s keine Fotos mehr. Übermorgen erreiche ich Haukeliseter und damit das Ende der ersten Etappe, dort kann ich Strom tanken und dann geht es weiter durch die Hardangervidda.
Hier geht’s weiter:
Gedankenwandern, Tag 7: Zeit.