Gedankenwandern, Tag 7: Zeit.

Zwei Etappen an einem Tag — bis nach Haukeliseter

@Aus_der_UBahn
3 min readApr 2, 2020
Symbolbild: Zeit.

33km Strecke, 8,5h Wanderzeit: Früher Aufbruch aus der Blekestadmoen-Hütte; ich komme schnell voran, am Holmavatn vorbei bis nach Haukeliseter, einer bewirtschafteten Hütte am Südrand der Hardangervidda.

Morgens wache ich früh auf. Die Norweger liegen am anderen Ende des Lagers und schnarchen, und ich bin hin- und hergerissen, ob ich die Gunst der frühen Stunde zum Wandern nutzen soll, oder ob ich zu laut wäre, wenn ich aufstünde. Immer diese Rücksichten. Schließlich schleiche ich mich mit allem Gepäck so leise es geht aus dem Zimmer, suche meine verstreuten Einzelteile im Gastraum und überm Ofen zusammen und breche ohne Frühstück auf, obwohl es immer noch frisch ist und nach Regen aussieht.

Draußen ist es klamm und fast etwas neblig. Ich mag die Luft und freue mich, wie sie in meine Lungen zieht. Am Anfang wie immer ein paar Stops, um eine Tasse Müsli zu frühstücken oder den warmen Pullover wieder auszuziehen, dann komme ich in Tritt und stürme fast den Pfad entlang. Einfach, weil es Spaß macht, Strecke zu schaffen. 18km sind es bis zur Holmavatnet-Hütte, und ich nehme mir vor, die Mittagspause dort zu halten und dann zu sehen, ob ich die nächste Tagesetappe von 15km, die bis Haukeliseter führt, gleich noch anschließe. So könnte ich einen Pausentag dazugewinnen.

Während des Gehens wird mir die Zeit nicht lang, nie. Ich teile den Tag in Abschnitte ein: jede Stunde einmal den Rucksack absetzen, herumschauen und trinken, alle 2 Stunden eine Kleinigkeit essen, mittags eine längere Pause. Heute, wo das lange Tal zum Sandvatnet fast in Wolken liegt, ist das Gehen beinahe Meditation. Ich weiß gar nicht mehr, seit wie vielen Tage ich so unterwegs bin, aber ich weiß, dass es noch viele Tage so weitergehen wird. Wenn ich an die Zeit denke, sehe ich keine Uhr vor mir, sondern eher den Raum: das Tal, der Pass, die Strecke am See entlang, dann hinüber zum nächsten See mit der Hütte. Und die Steine, die Wolken, das Wasser. Ich überlege, ob ich nicht eine Naturreligion gründen sollte, in der fließendes Wasser als Verkörperung der Zeit verehrt wird. Wer aus einem Fluss trinkt, nimmt das Göttliche in sich auf und wird selbst zu einem Stück Zeit. Wirst du selbst zur Zeit, brauchst du vor nichts mehr Angst zu haben. Wer altert, findet im allgemeinen Strom der Zeit seinesgleichen, sein innerstes Wesen. Oder so.

An der Holmavatn-Hütte nach vier Stunden noch vor Mittag angekommen. Ich gönne mir eine Stunde Pause, dann weiter Richtung Haukeliseter, ich rechne mit drei weiteren, vielleicht vier Stunden, selbst wenn ich erst um 18 Uhr ankomme, geht der Tag noch geruhsam zu Ende. Die ganze zweite Tageshälfte ragt links neben mir eine Bergkette empor, aber zu ihren Füßen lässt es sich gut gehen. Später werde ich doch müde und sehne mich ans Ziel, ich greife meine Notreserven an (Erdnüsse können Leben retten!), denn ich habe, als ich kurz Netz und noch einen winzigen Rest Akku hatte, in der Hütte angerufen, ein Einzelzimmer mit eigenem Bad und ein Abendessen aus der Küche gebucht. Kostet ein halbes Vermögen, aber heute hab ich‘s mir verdient. Endlich sehe ich die Hütte, sie liegt an einer STRASSE! Da sind AUTOS! Whow!

Einen schönen Tag habe ich mir da ausgedacht.

Hier geht’s weiter:
Gedankenwandern, Tag 8: Hardangervidda.

--

--

@Aus_der_UBahn
@Aus_der_UBahn

Written by @Aus_der_UBahn

Hamburg. ÖPNV. Wandern. Ex-Twitter, jetzt @Aus_der_UBahn@Norden.Social

No responses yet