Gedankenwandern, Tag 8: Hardangervidda.
Hinein in die große Wildnis!
22km Strecke, 7h Wanderzeit immer nordwärts in die größte Hochfläche Europas, von Haukeliseter bis zur Hellevassbu.
Möglicherweise war schlechtes Wetter und ich habe einen Pausentag genommen und einen ganzen Tag in der Haukeliseter Fjellstue verbummelt. Gelesen, Kaffee getrunken, kleine Spaziergänge gemacht, gelesen, Kuchen gegessen und gelesen (zum Glück habe ich einen E-Book-Reader mit dicken Krimis dabei). Ich weiß es nicht mehr. Ich weiß nur, also, ich denke es mir so, dass in dieser Nacht die Wolken aufgerissen sind und nun draußen ein strahlender Morgen beginnt, mit unglaublich klarer Luft — der Blick scheint durch nichts gehindert, als könnte man bis an die hinterste Abruchkante der Welt gucken. Einzelne grauweiße Kuchenteigwolken hängen höchst plastisch am Himmel und rufen nach mir, Instagramwolken.
Ein letztes Frühstück, die Rechnung bezahlen (bargeldlos, da tut’s nicht so weh) und ab, hinaus. Hinter der “Fjellstube” geht es nach Nordosten den Hang hinauf und dann, auf Reisehöhe, immer nach Norden. Die Hardangervidda ist eine der klassischen Einsamkeitsorte in Norwegen, eine riesige Wildnis, für deren Durchquerung man fast eine Woche benötigt. Auch hier gibt es im Tagesabstand Hütten und Hängebrücken über die größten Flüsse. Fürs Wandern ist alles eingerichtet, dennoch begegnet man nur ein paar Mal am Tag anderen Menschen — so riesig ist die Landschaft, hier “verläuft” sich der Wandertourismus. Nicht wörtlich gemeint, denn alle Wege sind, wie in ganz Norwegen üblich, mit einem gut sichtbaren roten “T” oder mit Steinmännchen markiert.
Heute habe ich 22km vor mir bis zur Hellevassbu-Hütte. Felsiges, sumpfiges Gelände ohne herausragende Landmarken. Den ganzen Tag an kleineren Gipfeln und spiegelnden Seen vorbei. Ein raues Land, wo auch jetzt noch vereinzelt Schneefelder zu überqueren sind und der Wind ständig in den Ohren donnert. Links sehe ich die teils noch vergletscherte Nupsegga. Hier ist kein gedankenverlorenes Spazieren möglich; das Hirn weiß um die Herausforderungen und teilt die Ressourcen des Körpers bewusst ein. Rechtzeitig essen, viel trinken, warm bleiben, ausruhen, weiterkommen, darum geht’s. Ich bin erfüllt von einem tiefen Vertrauen in die Fähigkeiten meines Körpers, denn ich kenne diese Situationen und weiß, dass ich es nicht einfach nur schaffen werde, sondern echte Erfüllung daraus ziehen kann. Und später auf der Landkarte mit dem Kuli eine lange Linie ziehen — schon während des Gehens freue ich mich auf den Rückblick.
Ich war in genug Hütten in der letzten Zeit und suche mir einen idyllisch abgelegenen Zeltplatz mit Seeblick, noch etwas bevor ich die Hellevassbu erreiche. Das Aussuchen des besten Platzes ist einer der schönsten Momente des Tages: Er soll uneinsehbar vom Wanderweg sein, nicht zu weit von einem Wasserlauf, schön eben ohne Buckel, nicht in einer Kuhle, die bei Regen vollaufen könnte, vor Sturm geschützt, nicht zu felsig wegen der Heringe, und: er muss einen wunderschönen Ausblick bieten, auch wenn ich später k.o. im Zelt liege und durch den noch geöffneten Reißverschluss hinausschaue. Das kann ich mir genau vorstellen.
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Gedankenwandern, Tag 9: Gestein.