Gedankenwandern, Tag 9: Gestein.

Ein Spaziergang durch die Erdgeschichte

@Aus_der_UBahn
3 min readApr 4, 2020
Ein Detail aus der geomorphologischen Karte von Ryfylke. Rot gestrichelt von links unten nach mittig oben: mein Wanderweg.

17km in 5h Wanderzeit nach Norden bis zur Litlos-Hütte, immer über Granit und Gneis, die vor einer halben Milliarde Jahre entstanden sind — oder noch früher?

Ich krieche aus dem Zelt und setze mich im Schlafsack auf die Isomatte auf einen der Felsen, die schon von der frühen Sonne beschienen werden. Der Kocher für den Morgenkaffee steht neben mir auf dem körnigen, grauen Gestein. Der flache, kahle Fels liegt bis zur nächsten sumpfigen Kuhle frei, wo sich etwas Vegetation ausbreiten konnte, und zieht mich in seinen Bann. Abends, wenn die Felsen noch sonnenwarm sind, lege ich mich flach darauf und tanke Kraft. Manche Menschen umarmen Bäume, ich streichle eben Felsen.

Das Fundament des norwegischen Gebirges ist der “baltische Schild”. Hier liegen Tiefengesteine aus der Erdfrühzeit, dem Präkambrium, an vielen Orten aufgeschlossen an der Oberfläche. Sie befinden sich nicht etwa einheitlich in einer Gesteins-Urform, sondern sind unter hohem Druck umgeformt und durchmischt worden, wie etwa der Gneis, oder magmatisch aufgeschmolzen wie der Granit mit seinen groben Kistallen. Sie wurden zu einem Gebirge aufgetürmt, gefaltet und schon wieder so weit abgetragen, dass sie von neuen Schichten überlagert wurden — hier durch das Kaledonische Gebirge. Durch die Kollision von Erdplatten wurde dieses in dem damals noch zusammenhängenden Gebiet von Kanada, Grönland, Schottland und Skandinavien vor rund 450 Millionen Jahren aufgetürmt. Dieses Kaledonische Gebirge bildet die noch sichtbaren Gipfel, die aber auch schon wieder in Kilometerdicke abgetragen wurden. Die Einebnung geschah durch Wind und Wetter in unfassbar langen Zeiträumen. Dass die Eiszeit-Gletscher diese Felsen am Ende noch so glattgeschliffen haben, ist im Vergleich dazu gerade mal einen geologischen Wimpernschlag her.

Wer durch Ryfylke und die Hardangervidda wandert, geht also durch und über unfassbar altes Gestein. Mich macht das ehrfürchtig, die Landschaft fühlt sich fremd und großartig an. Das offenliegende “svekonorwegische” Grundgebirge in Ryfylke, das zwar hoch liegt, aber in sich recht flach ist, ist rund eine Milliarde Jahre alt.

Am Horizont heute immer wieder zu sehen: Der Hårteigen mit 1.690m Höhe.

Als ich heute loswandere, sehe ich am Horizont schon immer wieder den prägnanten Hårteigen, den “König der Hardangervidda”. Er erhebt sich rund dreihundert Meter höher als seine Umgebung, denn er ist als großer Granitklotz vom “nur” 450 Millionen Jahre alten Kaledonischen Gebirge stehengeblieben, das drumherum bis auf das Baltische Grundgebirge schon wieder abgetragen wurde. Das “junge” Gebirge ist weg, über das urzeitliche Fundament spaziere ich dahin.

Doch die heutige Schichtung ist hoch komplex und kleinräumig aufgespalten. Am Holmavatn vor ein paar Tagen (siehe Titelbild oben) bin ich flach über die Abbruchkanten von verschiedenen gefalteten Schichten aus Basalt und Gabbro hinweggelaufen, während direkt neben mir ein überlagernder Berg aus Quarzglimmerschiefer aufragte.

Wieder einmal finde ich es schade, dass ich nur Laie bin und mir nicht als erfahrener Geomorphologe die Landschaft aus meinen eigenen Kenntnissen erschließen kann. Zum Glück habe ich mir vor meiner ausgedachten Reise etwas Halbwissen angelesen und viel in dieser fantastisch detaillierten geologischen Karte Norwegens herumgeklickt. Nun habe ich aber fast alles wieder vergessen und bemühe mich, bei meiner imaginären Wanderung auf die verschiedenen Gesteinsarten und Landschaftsformen zu achten. Das reicht eigentlich, um die Faszination der Jahrmillionen wieder wachzurufen und meine Wanderung mit etwas Pathos anzureichern.

Vor der Hütte von Litlos passiere ich einige größere Seen. Wieder bevorzuge ich das Zelt, und da ich früh dran bin, mache ich nur eine kurze Stippvisite in der Hütte und gehe noch weiter bis hinter den nächsten Höhenzug. Etwas oberhalb des Wegs finde ich einen idyllischen kleinen Teich in flachem Gelände. Zelt aufbauen, zum Waschen in den Teich waten, kochen, essen, auf der Isomatte ausruhen. Zähneputzen, ins Zelt kriechen, lesen, noch einmal in den Himmel gucken. Gute Nacht, denkt Euch auch mal was aus.

Hier geht’s weiter:
Gedankenwandern, Tag 10: Hårteigen.

--

--

@Aus_der_UBahn
@Aus_der_UBahn

Written by @Aus_der_UBahn

Hamburg. ÖPNV. Wandern. Ex-Twitter, jetzt @Aus_der_UBahn@Norden.Social

No responses yet