TikTok will, dass ich AfD wähle

Ein Selbstversuch

@Aus_der_UBahn
3 min readNov 11, 2023

Ich finde das Internet ja grundsätzlich spannend, deshalb habe ich mir einen Account bei TikTok zugelegt, auch wenn ich weiß, dass es nicht für mich gemacht ist. Manchmal ist es mir etwas peinlich, so weit in die Privatsphäre all der jungen Menschen einzudringen, die sich dort darstellen und entblößen. Aber ich habe auch Gefallen gefunden an all den kreativen Spots, den Memes. Leider passiert es manchmal nachts, dass ich zu müde bin, das Handy zur Seite zu legen und schlafen zu gehen, so dass ich der Sogwirkung erliege und weiter und weiter scrolle. Dabei passieren komische Sachen.

Was mir immer wieder in die Timeline gespült wird, sind kurze Sketche, die immer nach dem gleichen Muster funktionieren und wirklich komisch sind, zum Beispiel Niall MacMillan, der sich immer wieder in besonders skurille Videos hineinschneidet, als wäre er dabei, und dann sehr ausdrucksstark, aber doch dezent seine Irritation schauspielert. Ich bekomme viele Sprachsketche gezeigt, wo man sich über die deutsche Sprache und Gebräuche lustig macht, interessanterweise immer aus der Perspektive, dass am Ende das Deutsche doch positiv bewertet wird. Viele klassische Kabarettisten, bei denen ich meistens schnell weiterscrolle. Lustige Tiervideos, bei denen ich manchmal echt lachen muss. Fußballvideos, interessanterweise so detailliert getargetet, dass ich zeitweise nur Videos von Torwarten sehe, die aus dem eigenen 16er mit Fernschüssen ins gegnerische Tor treffen, oder dann eine Zeitlang nur Toni Kroos oder der BVB. Und dann sind da noch die Tüftler, die gerade elektronische Musik produzieren, entweder alleine im Studio an riesigen Synthesizern oder bei großen Raves, wo alle auf den “Drop” warten.

Man bekommt mit der Zeit eine gute Vorstellung davon, wie der Algorithmus funktioniert. Immer schön die vermeintlichen Interessen des Nutzers bedienen, dann hier und da mal ein Experiment, ob ihm vielleicht was Neues gefällt, oder das, was doch einfach allen auf der ganzen Welt gefallen muss. In die letzte Kategorie gehören scheinbar diese schlecht gespielten Szenen, wo ein Teenager-Pärchen spazierengeht, ein sexy Mädchen kommt daher und flirtet im Vorbeigehen mit dem Jungen, der dann gar nicht anders kann, als angespitzt zu reagieren, und dann schimpft seine Freundin ganz doll, Teenager halt. Ähnlich die Schiffs- oder Autounfälle oder die dramatischen, mit Klaviermusik unterlegten Fantasielandschaften, die allesamt ganz erbärmlich CGI-generiert sind und wo dennoch alle ihre Empörung oder ihr Staunen in die Kommies posten.

Das Schlechte an TikTok ist, dass es zwar die Verweildauer und jede Interaktion ständig misst und bewertet, aber meine persönliche Motivation dahinter nicht versteht. Also ist da plötzlich ein Video, in dem Jens Spahn mit Ricarda Lang in einer Talkshow sitzt und sie angeblich rhetorisch fertigmacht. Ich bin irritiert und schaue in die Kommentare und kann gar nicht fassen, welch misogyner Scheiß da über Ricarda Lang abgeladen wird. Um ein Haar hätte ich sogar was kommentiert, auweia. Das ist definitiv nicht meine politische Richtung, aber danach bekomme ich immer wieder rechte Hetzvideos in die Timeline gespült, Pech gehabt, hab ich wohl das erste zu lange angeguckt. Ab sofort hält TikTok mich für einen Halbnazi. Ja, ich weiß, inzwischen kann man bei TikTok auch angeben, dass ich diese Art Inhalte weniger sehen möchte, aber wer nutzt das schon wirklich (außer mir dann irgendwann, als es zuviel wurde)? Das ist genau der Mechanismus, der für den Aufschwung der AfD mitverantwortlich ist. Eine durch den Staat China kontrollierte Software setzt ihre deutschen Nutzer immer wieder rechter Propaganda aus, um im besten Fall die Nutzung zu intensivieren und Werbegelder zu generieren — im schlechtesten Fall aber um nach russischem Muster die politische Agenda in Deutschland zu steuern und einen “Rechtsruck” zu kreieren, der die Grundlagen unserer Demokratie erodieren lässt. Das ist nichts Neues, aber ich finde, man kann nicht oft genug drauf hinweisen. Es graust mich vor der Vorstellung, was ich alles zu sehen bekäme, wenn ich TikTok wirklich vermitteln würde, dass ich diese Themen mag.

Die Algorithmen funktionieren ürbigens bei den westlichen Copycats, also Youtube Shorts und Instagram Reels, nicht anders. Allerdings ist mir dort der rechte Scheiß noch nicht gezeigt worden — ich weiß nicht, ob es so ist, weil sie dort die Bubbles besser trennen können oder weil sie diese speziellen Themen tatsächlich herausfiltern.

Im Grunde ist das ja auch die Geschichte von Facebook und Twitter. Und eigentlich müsste man den Schluss ziehen, dass die Einführung von algorithmengesteuerten Plattformen für alle einfach ein Riesenfehler war, und sie gehören geschlossen. Oder?

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@Aus_der_UBahn

Hamburg. ÖPNV. Wandern. Ex-Twitter, jetzt @Aus_der_UBahn@Norden.Social