Unterwegs auf der nördlichen GTA
Eine einwöchige Hüttentour entlang der schweizerisch-italienischen Grenze über idyllische Alpen und steile Pässe
… oder besser gesagt: Unterwegs auf dem Zubringer zur nördlichen GTA, denn die acht Etappen vom Nufenenpass in der Schweiz südwärts durch die Gruppe des Monte Leone bis zum Valle Anzasca gehören noch nicht zur offiziellen Hauptroute der Fernwanderung “Grande Traversata delle Alpi” (GTA), sondern sollen diese erst für Wanderer aus dem Norden erschließen. Im bekannten Wanderführer von Werner Bätzing tragen sie daher die Nummern V1-V8 für “Variante”.
Anfang Juli 2022, einem warmen, fast schneefreien Jahr, bin ich diesen fantastischen Weg über idyllische Alpen und steile Pässe gegangen. In diesem Jahr hatte ich, anders als bei meiner Wanderung auf der südlichen GTA, “nur” eine Woche Zeit, und wegen einer Operation kurz vorher musste ich meine Pläne anpassen: Um Gewicht zu sparen, habe ich zum ersten Mal das Zelt weggelassen und habe alle Hütten schon vorher per Telefon durchgebucht. Also eine sehr klassische Hütten-Tour. Um mich sanft einwandern zu können, habe ich die ersten zwei Etappen auch auf nur je 4 Stunden Wanderzeit beschränkt.
Nach der Anreise mit dem Nachtzug hatte ich in Basel morgens schon die übliche zweistündige Verspätung. Die letzte Verbindung, den Schweizer Postbus hinauf zur Alpe Cruina am Nufenenpass, konnte ich über eine spontan geänderte Anreisestrecke über Airolo in der Gegenrichtung erwischen, so dass ich letztlich nur eine Stunde verloren habe. Noch hatte ich 4 Stunden Wanderzeit vor mir, und ich wollte doch das Abendessen auf der Hütte nicht verpassen!
Um 13:45 stand ich also alleine an der Bushaltestelle, der Bus war weitergefahren, und ich blickte das Tal zum Griespass hinauf: Jetzt geht es los, da musst du jetzt rauf. Diese Momente, wenn du endlich da bist und es losgeht!
Tag 1: Griespass — Rifugio Cittá del Busto (4h, 10km)
Ich stieg an der modernen Capanna Corno del Gries vorbei, direkt hinauf zum Griespass mit dem großartigen Ausblick über den Griessee (wo sich vor wenigen Jahrzehnten noch der Gletscher erstreckte) und den Bergkessel im Hintergrund. Am Pass ging’s über die Grenze (ach, Italien…!), steil hinab zur Alpe Bettelmatt und gleich wieder hinauf zum Rifugio. Das war zwar anstrengend, doch das Rifugio Bim-Se unten am Lago di Morasco, das eher auf dem Weg gelegen hätte, war ausgebucht. Nun ja, Wochenende im Juli, per Auto erreichbare Orte — da ist sogar auf der ruhigen GTA mal etwas mehr los. Sommerfrische-Wochenend-Ausflügler zuhauf. Auf der Hütte wurde ich sogar mit mehreren anderen Wanderern in ein Zimmer eingeteilt. Das mag üblich sein, aber von der südlichen GTA war ich anderes gewohnt: Da war es um vieles einsamer, da hatte ich nie unbekannte Zimmergenossen.
Leider konnte ich auch nicht aufs Zelt ausweichen. Mit Sehnsucht habe ich auf der ganzen Tour immer wieder schöne Flecken hoch oben am Bergsee entdeckt, wo ich am liebsten über Nacht geblieben wäre. Doch es war schon gut so: Der Rucksack war mit 10kg deutlich leichter (immer noch zuviel Essen!), so dass ich trotz gerade einmal 2 Wochen alter OP-Narbe ohne große Belastung gehen konnte. Gute Planung, die voll aufgegangen ist!
Tag 2: Durchs Val di Nefelgiú zum Rifugio Margaroli (4h, 11km)
Alleine Wandern heißt nicht alleine sein: Schon an diesem Morgen zeigte sich, dass die Wanderer auf der GTA oft das gleiche Programm haben, und man trifft sich beim Frühstück, überholt sich bei den Pausen, oder trifft abends auf der gleichen Hütte ein. Am Cittá del Busto lernte ich Lisa kennen, eine rüstige Rentnerin aus Wien, und zwei Paare aus Münster — man trifft sich. Wer das vermeiden will, weil er unangenehme Bekanntschaften fürchtet, der sollte gegen den Strom von Süd nach Nord gehen. Ich hatte Glück mit netten Menschen!
4 Stunden Wandern an einem ganzen Tag, da bleibt viel Zeit fürs Gucken und Genießen. Unten am Lago di Morasco war’s mir viel zu heiß — und zu viele Ausflügler. Also stieg ich hinauf ins einsame Val di Nefelgiú und machte lange Siesta im Schatten eines Felsens am Bergbach. Vom Pass dann steil hinab zum Lago di Vannino mit dem Rifugio Margaroli direkt an der Staumauer. Der See ist fast leer, die Staumauer von innen komplett trockengefallen, so groß ist die Dürre, unter der sie in diesem Jahr auch unten in der Po-Ebene leiden.
Mit im Zimmer diesmal: Rainer vom Ammersee, der sich zweieinhalb Monate Auszeit für die gesamte Strecke bis zum Mittelmeer genommen hat. Bis zum Ende meiner Tour bin ich immer wieder stückweise mit ihm gegangen oder habe abends mit ihm vor der Hütte gesessen.
Tag 3: Über die Scatta Minoia zur Alpe Devero (6,5h, 13,5km)
Nachts plötzlich ein Gewitter, da war ich doch froh, nicht im Zelt zu liegen. Vormittags goss noch zwei Stunden Regen herab, was dank guter Regenkleidung gar nicht so unangenehm war. Zumindest kam man gut ins Gehen, denn Anhalten und Fotos machen war jetzt nicht so verlockend. Am Pass Scatta Minoia kam dann wieder die Sonne raus, und ich ging über wunderschöne Hochflächen mit Fernblick hinab zur Alpe Devero, erst noch durch Wald am See entlang, dann über die bekannte Hochebene durch eine traumhafte Kulisse zum Rifugio Castiglioni. Die Alpe ist gut erschlossen, es gibt einige Ferienhäuser und kleine Weiler — fast zu viele für meinen Geschmack, doch das Rifugio war einfach und ursprünglich, der Abend mit Lisa und den Münsteranern sehr gemütlich — wenn auch kurz, denn nach dem üppigen Dreigangmenü in den Hütten falle ich immer binnen kürzester Zeit ins Bett.
Was mir erst später auffiel: Diesmal bin ich gar nicht am dritten Tag ausgerutscht oder gestürzt, wie sonst fast immer. Und am vierten auch nicht. Durch den sachten Start konnte ich wohl den üblichen Einbruch nach den ersten Tagen vermeiden — danach kommt bei mir immer die Kondition, dann kann ich immer weiter gehen. Vielleicht lag es aber auch einfach an meinen neuen Wanderschuhen, dem guten Profil. Nicht einmal nennenswerte Blasen hatte ich!
Tag 4: Über Scatta d’Orogna und Passo di Valtendra zur Alpe Veglia (7h, 14,5km)
Was für ein wunderschöner Wandertag! Dicke weiße Wattewolken treiben über den dunkelblauen Himmel, vom Pass reicht der Fernblick bis zum fast 150km entfernten Piz Bernina, den ich letztes Jahr auf meiner Wanderung durch Graubünden immer im Blick hatte. Gleich nach dem Start steige ich von der Alpe Devero eine Schwelle hinauf ins Hochtal der Alpe Buscagna mit einem eindrucksvollen Felsriegel auf der nördliche Seite. Wasserfälle donnern herab, lichte Lärchenwälder am Hang, ein türkisgrüner Bergbach schlängelt sich durch den Talgrund, eine Schafherde döst am Wegrand. Einsam steige ich höher, picknicke in einem Blocksteinfeld, und oben am Scatta d’Orogna genieße ich den Blick zurück über den weiten, gipfelbesetzten Horizont. Dann ein etwas ausgesetzter Hangweg hinüber zum 2. Pass, durch herrlichen Wald hinab zum Plan Du Scricc, wo man durch blühende Wiesen auf den dominant aufragenden Monte Leone mit seinem Hanggletscher zuwandert. Er beherrscht auch den weiten Blick von der Aussichtsterasse des Rifugio Cittá di Arona über die Alpe Veglia. Ein Traum. Für eine entspannte Übernachtung habe ich ein kleines Dreier-Stockbett-Zimmer für mich — wieder so eine einfache, alte, gemütliche, stilvolle und freundlich geführte Hütte. Lisa und Rainer sind auch wieder da.
Tag 5: Hinüber nach Gondo in die Schweiz (7,5h, 16,5km)
Für die GTA gibt es zwei Wanderführer: Der zweibändige Klassiker von Werner Bätzing gibt den offiziellen Verlauf wieder, der “Rother” führt gelegentlich über andere Strecken — so wie heute: Ich möchte nicht nach Varzo auf nur 600m hinab- und am nächsten Tag direkt auf 2.300m wieder hinaufsteigen. Also wende ich mich “nach Rother” kurz hinter dem ersten Abstieg von der Alpe Veglia nach Süden ins nächste Seitental (und verabschiede mich zum letzten Mal von Lisa). Da geht es, wieder bei herrlichem Wetter, hinauf zum Passo di Gialit, wo sich ein tiefer Blick ins Zwischbergental und die Schlucht der Simplon-Passstraße öffnet. Ich quere hinüber über einige Alpen, bis ich in die Schweiz komme und ein steiler Abstieg in die Gondoschlucht beginnt. Erst jetzt, auf diesen 1.400 Höhenmetern, wird es heiß und immer heißer, und langsam komme ich dem Verkehrslärm der Passstraße näher. Durch Gondo donnern die Laster, und dennoch ist die kleine Pension Bellevue ein sehr netter Ort mit engagierten, superfreundlichen Wirtsleuten, einer erfrischenden Dusche und einem schönen Einzelzimmer für mich. Rainer ist schon da. Aus Spaß sitzen wir an den Tischen vor dem Haus, quasi direkt an der Straße. Erst später ziehen wir zum Abendessen auf den hinteren Balkon um.
Tag 6: Über einen wenig begangenen Pass zum Rifugio Alpe il Laghetto (7h, 14km)
Das Tal von Zwischbergen war einmal Schauplatz eines echten Goldrauschs, bis Ende des 19. Jahrhunderts die Minen Konkurs gingen, da man doch nur 6 Gramm Gold pro Tonne Gestein erbeuten konnte. Heute habe ich mich mit Rainer zusammengetan, um dieses Tal hinaufzuwandern, dann seitlich hoch zum wunderschön gelegenen Tschawinersee zu steigen (Mittagspause mit den Füßen im Wasser) und über den wenig begangenen Passo d’Oriaccia zurück nach Italien und zur Alpe il Laghetto zu kommen. So kürzen wir den langen Schlenker über das Rifugio San Bernardo ab und sparen uns Zeit und Strecke. Allerdings war der Weg auf den Karten nur bruchstückhaft eingezeichnet, und ich mache mir ein wenig Sorgen, da auch auf Hikr.org nicht zu sehen war, wie schwierig es dort sein würde. Am Ende war der Weg über den Pass sogar frisch markiert — zwar steil und anstrengend durch ein großes Blockfeld, doch nichts wirklich Kritisches. Aber gut, dass ich dort mit Rainer zusammen gehen konnte. Wir kamen früh am Rifugio Alpe il Laghetto an und genossen einen entspannten Sommernachmittag auf der Panoramaterrasse — und später ein gutes Essen. Ein Team von CAI-Senioren renovierte einen Anbau und sorgte für Stimmung in der Stube. Mit vier Alpinisten aus Holland und einigen weiteren Wanderern war auch diesmal das Zimmer mit den Stockbetten gut gefüllt.
Tag 7: Zum Lago di Antrona (6,5h, 14km)
Noch einmal ein langer, wunderschöner Wandertag, wieder war es oben in den Bergen schön kühl, trotz Sonnenschein und blauem Himmel. Zusammen mit Rainer (freundlicherweise ließ er mich vorangehen, der Langsamere bestimmt das Tempo…) stieg ich über den Passo di Campo und den Passo de la Preja hinüber und hinab ins Valle Antrona, oberhalb des Lago Alpe dei Cavalli durch steilen Bergwald mit schönen Ausblicken. In der Mittagshitze erreichten wir Rainers Tagesziel, das Rifugio Cittá de Novara, wo wir noch eine Cola zusammentranken. Ich wollte noch weiter, deshalb verabschiedeten wir uns und ich ging noch eine gute Stunde weiter hinab nach Antronapiana und eine knappe Stunde hinüber zum Lago di Antrona. Hier hatte ich im netten, aber schon touristischen Albergo Lago Pineta am Bergsee ein Zimmer gebucht. Das Abendprogramm: Dusche, Eisbecher und “Panasché”, Ausruhen, noch etwas Herumspazieren, Abendmenü, Spaziergang, Schlafen. So schön.
Tag 8: Ein Tag in Domodossola
Die achte Etappe vor dem eigentlichen Beginn der GTA führt aus dem Valle Antrona steil hinauf zur Alpe di Colma und direkt wieder hinab nach Calasca-Castiglione ins Valle Anzasca. Sehr viele Höhenmeter! Ich hätte diese Etappe noch gehen können, wenn ich früh aufgebrochen wäre und um 15:36 Uhr im nächsten Tal den Bus nach Domodossola erwischt hätte, von wo ich abends nach Hause aufbrechen musste. Aber ehrlich gesagt: War mir zu heiß und zu anstrengend. Lieber habe ich in aller Ruhe am Lago di Antrona gefrühstückt, bin von dort um 10 Uhr mit dem Bus nach Domodossola gefahren und habe mir ein gemütliches Besichtigungsprogramm gegönnt. Es war Markttag in der hübschen Altstadt, es gibt einen Sacro Monte mit Aussichtspunkt, es gibt viele nette Restaurants und einen Kiosk, der die Süddeutsche Zeitung hat. Gute Entscheidung! Ein schöner Abschluss. Und sogar die Züge zurück nach Hamburg waren ausnahmslos pünktlich (wenn auch nicht bequem, denn die Liegewagen waren ausgebucht, aber immerhin ist die Zugfahrt durch die Schweiz wunderschön, aber das ist nun wirklich eine andere Geschichte).