Wie aus meinem Wir ein Ich wurde

Alter weißer Mann denkt über seine Generation nach

@Aus_der_UBahn
7 min readMay 9, 2021

Zurück in die Achtzigerjahre

Neulich hat es mich wie ein Donnerschlag getroffen. Ich habe in Konzert-Videos auf Youtube gestöbert und sah die Aufnahmen des Publikums von alten Live-Auftritten von Rio Reiser. So wie die Leute da aussahen, das war meine Generation! Das hätten alle meine Freundinnen und Freunde sein können. Es war mir alles sehr vertraut. Ich glaubte plötzlich, ein “Wir” wiederzufinden, das mir über all die Jahre zum Ich verkommen war.

Screenshots aus einem Rio-Reiser-Konzert (Youtube)

Mal ganz abgesehen von den Anziehsachen und den Frisuren der späten Achtziger, über die man ja so herrlich Witze reißen kann; es waren auch die Blicke, die Bewegungen, das Selbstvertrauen dieser Leute, die mich an mein früheres Ich erinnerten.

Die Jungs trugen Vokuhilas, dunkle Sonnenbrillen und viel zu weite Hemden, ausgewaschene Jeans. Die Mädchen hatten kurze Haare, auch mal eine Dauerwelle — es war ein irgendwie laienhaftes Styling, keine vollständige Body Optimization, mit dem wir zeigten, wo wir hingehörten. Irgendwie sahen wir halt alle aus, wie wir aussahen, und das war auch gut so. Wir hatten überall Haare am Körper und fanden das schön. Ich trug damals schlaffe, viel zu große Strickpullover und richtig geile Cord-Schuhe, die Haare hingen mir in die Augen und meine runde “Nickelbrille” hatte einen roten Rand.

Hey Boomer! (Meinen die mich?)

Viele halten mich für einen “Boomer”, obwohl in meinem Geburtsjahr 1967 die Anzahl der Geburten schon wieder zurückging. Trotzdem gab es unheimlich viele in meinem Alter. Am Gymnasium ging ich in die Klasse 5g, teilweise gab es neun Parallelklassen. An der Uni waren die Hörsäle voll, keine*r meiner Professor*innen kannte mich persönlich. Und nach dem Referendariat am Gymnasium in Bayern wurde nur jede*r Zehnte mit meiner Fächerkombination übernommen. Wir wuchsen mit dem Bewusstsein auf, nicht gebraucht zu werden, ihr wisst schon, “No Future”. Ich zähle mich eher zur “Generation X”. Das Buch habe ich mit voller Zustimmung verschlungen, und ich bin im gleichen Jahr geboren wie Kurt Cobain.

Aber da hört die Generationensache auch schon wieder auf. Auf dem Schulhof gab es “Popper”, mit denen wollte ich nichts zu tun haben. Ich war wohl vom Äußeren her eher ein “Normalo” mit einer Affinität zu den “Spontis”, die aber oft ein paar Jahre älter waren. So wie ich mit meinem Musikgeschmack auch meistens zu spät dran war: Zuerst die Beatles, dann die frühen Genesis-Sachen mit Peter Gabriel, Laurie Anderson, die Schmidts, The Cure, und als ich auch mal etwas mehr Spaß haben wollte, die schrägeren Sachen der Neuen Deutschen Welle, Talking Heads, Madness, The B52's.

Wichtiger als die Generation: die Haltung.

Wir haben uns auch damals stark über die politischen Positionen definiert. Ich stand in der Pause händchenhaltend im “Friedenskreis” mit hunderten Mitschüler*innen in der Aula, um gegen die Nachrüstung zu protestieren, auch wenn sich der alte Lateinlehrer hinter der Säule versteckte und aufschrieb, wer dabei war, um uns nachher an der Tafel auszuquetschen und eine Sechs zu geben. Ich saß in der Morgendämmerung im Sonderzug nach Ulm, “Was wollen wir trinken” singend (“Wir halten zusammen, keiner kämpft allein!”), um eine Menschenkette durch die ganze Republik zu bilden, und in Wackersdorf habe ich mich vom Berliner Einsatzkommando durch den Wald jagen lassen, alles natürlich, um die Atomkatastrophe zu verhindern. Tschernobyl saß uns da frisch in den Knochen. Übrigens fand ich singen scheiße, weil man da alles mit den anderen im Gleichtakt machen musste, das ging mir gegen den Strich. Um 20 Monate Zivildienst leisten zu können, musste ich noch auf acht Seiten darstellen, warum ich Krieg schlimm finde (natürlich wegen meinem Opa, der mir immer blablabla).

Stoppt Strauß und die WAA. (Youtube)

Immer diese Scheiß-Moral

“Nur mal kurz die Welt retten” wollten wir damals schon. Ob meine extrem strenge moralische Grundhaltung ein Generationenphänomen ist, weiß ich nicht. Offenbar eher nicht. Das zynische “Leider geil” der nächsten Generation war jedenfalls nicht mein Lied, denn wenn etwas schädlich war, dann habe ich es auch nicht gemacht. Nie zuviel getrunken, nie geraucht, nie ein Auto besessen. (Dann zwar später bedenkenlos um die Welt geflogen, aber da wussten wir’s noch nicht besser — zum Glück.) Wir haben uns immer um Authentizität bemüht. Was ist Glück, der Sinn des Lebens, diese Fragen haben wir uns ganz im Ernst gestellt. Immer der Wunsch, die Fassaden niederzureißen und auf den Grund der Dinge schauen und den wahren Kern des Menschen erkennen zu können.

Unsere Partys bestanden daraus, dass wir Tee trinkend um eine Kerze saßen und geredet haben (also, zumindest, wenn der AC/DC-Teil zu Ende war). Meine liebste Freizeitbeschäftigung war es, mich an einen Waldrand zu setzen und zu grübeln. Meine erste Liebe bestand vorwiegend daraus, dass wir bei Tangerine Dream oder Pink Floyd im Halbdunkel saßen und uns in die Augen schauten. Ich war fasziniert von den Bhagwan-Jüngern, aber zu schüchtern und skeptisch, um da mitzumachen.

Als sich die Grenze öffnete und die “Ossis” auf Besuch in die Stadt kamen, war ich beleidigt, dass sich die Intellektuellen unter ihnen über den aggressiven Kapitalismus bei uns beschwerten. Ich war doch ganz anders! Ich wollte vor allem mich selbst erkennen! Ich wollte Frieden und Harmonie für alle!

Wie dann alles weiterging und anders wurde

Wir haben alle unsere Schäden erlitten, vielleicht ist das der Grund, warum uns das “Wir” abhanden gekommen ist. Ich bildete mir ein, dass ich andere Scheidungskinder an ihrem immer etwas zynischen, schrägen Humor erkennen konnte, die übrigen waren alle etwas tumb. Wenn ich mein Umfeld betrachte, scheinen Selbstmorde damals groß in Mode gewesen zu sein. Dann kamen Familie, Umzüge, ein Job, ich habe ein neues Leben angefangen und die Beziehung zum alten nicht halten können oder wollen.

Heute muss ich erfahren, dass ich in diesem Internet drinne für einen alten weißen Mann gehalten werde. Dass ich tatsächlich einer werde, konnte ich bisher nicht verhindern. Ich empfinde es aber nicht so, als wäre ich wegen Hasspostings und Mansplaining die Wurzel allen Übels. Ich fühle mich inzwischen eher etwas fremd im Netz und deshalb halte ich mich lieber zurück, auch wenn ich seit über 20 Jahren mit dem Internet vertraut bin. Viele Sachen verstehe ich nicht, naja, ok, ich möchte sie wohl nicht verstehen, ich kokettiere mit dem Alter. Ich sage allen Ernstes Sätze, die mit “Früher…” beginnen und schreibe Texte wie diesen.

Ich gehöre nicht mehr dazu, und das ist gut so

Meine Oma hat Weltkrieg und Flucht erlebt und hatte eine Speisekammer, in der sie Essensreste solange aufbewahrt hat, bis sie schimmlig waren, und dann hat sie sie immer noch nicht weggeschmissen. Gute Butter war gut, Süßstoff schmeckt mir bis heute nicht. Ich bin analog aufgewachsen und möchte ohne digitale Klischeefiguren auskommen, die ihr Geld damit verdienen, mich zu beeinflussen. Statt im Stream zuzusehen, wie einer ein Computerspiel spielt, gehe ich lieber raus, auch wenn das Wetter schlecht ist. Wenn ich Asterix oder die Muppet-Show zitiere, erkennt das keiner. Was ich damit meine: Inzwischen ist wirklich viel Zeit vergangen und die Erfahrungen der Menschen, die heute jung sind, weichen schon sehr von meinen ab. Ich werde immer mehr ein einzelnes “Ich”, auch wenn mich manchmal immer noch die Sehnsucht packt, Teil einer Jugendbewegung zu sein, aber ich fürchte, die Jugendbewegung dürfte dankend verzichten. Obwohl, bei Fridays for Future darf ich mitdemonstrieren, das finde ich super.

Letztlich bin ich einfach saufroh, dass der ganze Jugendscheiß (Partys, Tinder, Mode, Drogen, sowas) mich nichts mehr angeht und habe ein klein wenig Spaß daran, mich aufgrund meiner Lebenserfahrungen überlegen zu fühlen. Nur diesen moralischen Überbau, den werde ich nicht los. Mit genussgeilen Porschefahrern oder rassistischen Trollen in einen Topf geworfen zu werden, nur weil ich ein ähnliches Alter und die gleiche Hautfarbe habe, das macht mich immer viel wütender, als es sollte. Ach, egal! Jede Generation hat ein verdammtes Recht auf ihre Vorurteile. Halt den Mund, Alter!

Vergiss das Alter!

Aber mal im Ernst: Das Alter ist scheißegal. Die Hautfarbe sollte auch egal sein. Was zählt, ist die Haltung. Setzt sich der Mensch für die richtige Sache ein? Denkt er solidarisch oder nur an sich? Wie alt Ulf Poschardt oder Alexander Gauland sind, ist mir egal, aber wenn sie Schlechtes tun, Schwache noch beschimpfen, wenn sie nur an ihr eigenes Vergnügen denken, wenn „Freiheit“ für sie nur das Recht ist, alles kaputtzumachen, dann sind sie halt Arschlöcher. Es geht um Politik, und das sollte man auch so benennen.

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@Aus_der_UBahn

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